Leesfragment: Der Mann, der das Glück bringt

03 mei 2016 , door Catalin Dorian Florescu
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Ray und Elena lernen sich in einer dramatischen Nacht in New York kennen. Sie ist eine Fischerstochter aus dem Donaudelta, er ein erfolgloser Künstler, der noch an den Durchbruch glaubt. Sie muss die Asche ihrer Mutter nach Amerika bringen, er will erreichen, was sein Großvater für sich erhoffte. Ihre geheimnisvollen Lebenswege finden in jenem Augenblick zusammen, als sie sich entscheiden können, einander erzählend zu vertrauen. Ihre Familiengeschichten führen den Leser in die Welt New Yorks vor hundert Jahren und in das magische Universum des Donaudeltas.

In seinem spannenden, an Fabulierlust und Überraschungen reichen Roman, der von 1899 bis in die Gegenwart reicht, lässt Catalin Dorian Florescu zwei Erzählstimmen abwechselnd zu Wort kommen. So entsteht das Bild eines fantastischen und harten Jahrhunderts zwischen dem Schwarzen Meer und der amerikanischen Metropole. Ein Roman voller Tragik und Komik, der gleichzeitig eine literarische Reverenz an die Fähigkeit des Menschen ist, sein Glück zu suchen, zu überleben und allen Widrigkeiten zum Trotz zu lieben.

 

Erstes Kapitel

Der Fluss nahm die Toten sanft auf, als ob er wusste, dass es besondere Tote waren. Der East River, so ungestüm er sein konnte, lag in der Morgendämmerung wie ein breiter, bleierner Streifen. Er war geduldig, er wollte dem Menschen nicht ins Handwerk pfuschen. Er würde die Toten des Ghettos an diesem Tag nicht mehr kriegen, dafür aber andere. Das war so gut wie sicher.
An den Ufern Manhattans stand immer irgendwer bereit, der sich ihm anvertrauen wollte: Verzweifelte, Müde, Verrückte. Oder jemand, der ihm andere anvertraute, die Opfer eines Überfalls oder einer Kontenregelung. Der Fluss war nicht wählerisch. Tage später gab er die Körper wieder frei und spülte sie ans Land, von den Piers des geschäftigen Hafens im Süden bis zur sandigen Küste und den morschen Stegen der Bronx.
Es war nicht der Fluss, der sich zu fügen hatte, da man ausgerechnet hier eine Stadt gebaut hatte, sondern der Mensch. Nur jetzt gönnte er sich eine Pause und schaute unbeteiligt zu, wie die Mannschaft des Dampfschiffes die kleinen weißen Särge an Bord brachte. Sie waren kaum vom Schnee zu unterscheiden, der seit dem letzten Abend gefallen war und nun dick auflag.
Die Männer waren an die Arbeit gewohnt. Zweimal die Woche brachte das Schiff die frischen Toten des Ghettos zur Hart-Insel. Ihre Hände waren an ihre Aufgabe gewohnt, die sie schnell und effektiv verrichteten. Der Kapitän, mürrisch und grob, schaute ihnen von der Reling zu. Auch er war gewohnt, sie zu noch mehr Eile zu ermahnen. Und ebenso war Großvater – ein Junge von erst vierzehn oder fünfzehn Jahren  – gewohnt, dem Dampfer zuzusehen, wie er sich vom Pier löste, um dann schwer und träge Kurs auf den Armenfriedhof zu nehmen.
Meistens schenkte er ihm nur einen flüchtigen Blick. Er hatte Wichtigeres vor, er musste die paar Cent zusammenbringen, um seinen knurrenden Magen zu füllen.
Ein hartes Brötchen mit Hering, ein Gurkensandwich oder an der Orchard Street, im jüdischen Viertel, einige Knisches und einen kräftigen Borschtsch.
Wie der Fluss war auch er nicht wählerisch. Wer ihn ernährte  – Iren, Italiener oder Juden  – war ihm egal, wichtig war nur, dass er etwas zwischen die Zähne kriegte. Wenn dann am Abend noch sechs Cent für einen Schlafplatz im Heim für Zeitungsjungen übrig blieben, war es ein guter Tag gewesen. Ein perfekter erst, wenn er sich Kautabak leisten konnte.
Großvater hätte niemals zugegeben, dass ihm der Anblick des Dampfers etwas ausmachte, wenn dieser an den Straßen der East Side vorbeifuhr, beladen mit seiner wertlosen oder wertvollen Ladung. Ganz, wie man es haben wollte.
Es waren bloß einige Tote mehr, und sie trugen keine illustren Namen, manchmal hatten sie gar keinen, wenn sie, Neugeborene, ungetauft gestorben waren. Oft blieb hinter ihnen keiner auf dem Kai zurück. Weil sie sich nicht einmal das Sterben leisten konnten, bezahlte die Stadt ihr dürftiges Begräbnis. Für ein Mal, das einzige Mal, kamen die Toten auf ihre Kosten.
Wenn er am Ende der Delancey Street Stiefel putzte, an einer Straßenecke zwischen Union Square und Chatham Square stand und die Schlager des Tages sang, wenn er vor einer Fabrik oder einer Synagoge Zeitungen verkaufte, war das Schiff eine entfernte Erinnerung. Ebenso, wenn er sich um einen Zigarettenstummel oder um die Bierreste in den Fässern vor den unzähligen Spelunken prügelte. Nur eine Erinnerung, aber eine unauslöschliche.
Keiner der Jungen hätte zugegeben, dass er sich davon beeindrucken ließ, doch jedes Mal verrieten sie sich. Sie schauten eine Spur zu lange hin oder spuckten den Tabak eine Spur zu gleichgültig aus, nachdem sie gemurmelt hatten: «So kann es einem schnell mal ergehen.»
Die Toten der East Side zogen regelmäßig an ihnen vorbei. Dem war nichts mehr hinzuzufügen. Das Leben war kompliziert genug, um es auch noch mit dem Tod zu belasten. Wenn man aber Großvater unter vier Augen gefragt hätte, hätte man vielleicht erfahren, dass er eins ganz bestimmt nicht wollte: dort zu landen, wo das Schiff hinfuhr. Aber niemand fragte. Es gab niemanden. Er war allein.
«Volevo an impressive funerale», sagte er noch als alter Mann in seinem seltsamen Sprachenmischmasch. Eine schwarze Kutsche mit gläsernen Wänden, durch die man ihn in seinem besten Anzug auf feinem Tuch liegend sehen würde. Dahinter eine Blaskapelle. So fuhren die Iren und die Italiener ihre Toten durch das Ghetto. Dafür gaben sie ihr letztes Geld aus, wenn sie welches hatten. So wollte er es haben, aber so kriegte er es nicht. Am Ende gingen nur Mutter, Pasquale und ich hinter dem billigen Sarg her.

Am 1. Januar 1899 stand Großvater auf halber Strecke zwischen der Brooklyn Bridge und dem Rudgers Slip, wo er im Sommer im Fluss badete, und schaute dem Treiben am Pier zu. Er hätte jedem ins Gesicht gelacht, der behauptet hätte, der East River wäre gar kein Fluss, vielmehr eine langgezogene Meerenge. Die Ghettobewohner dachten nicht anders an ihn als an einen Strom, dem sie ihre Abfälle, ihre Ausscheidungen anvertrauten, ihre Toten. Der sie wusch und an dessen Ufern sie manchmal saßen, um für einige Augenblicke der Enge der Stadt zu entkommen.
Großvater war zufrieden, denn er hatte am letzten Tag des Jahres nicht wenige Zeitungen am unteren Broadway abgesetzt, auch wenn seine wichtigsten Kunden nur noch selten unterwegs waren: Die ambulanten Verkäufer, die immer Verpackungspapier brauchten. Viele von Ihnen hatten sich vorm heulenden Wind geschlagen gegeben und waren gar nicht erst aufgetaucht.
Er hatte, so laut er konnte, «Extra!» geschrien, denn das verfehlte fast nie seine Wirkung. So viel «Extra», wie er immer rief, konnte es gar nicht geben. War er an der Elisabeth Street unterwegs, wo vor allem arme Iren wohnten, hatten seine Extras mit den Engländern zu tun, die Irland unterdrückten. An der Mulberry Street waren seine Extras – ein Attentat auf den König, die Dürre, eine Seuche im alten Land – auf die Italiener zugeschnitten. An der Orchard Street wiederum war es wichtig, den Zaren schlechtzureden.
Sein Chef Paddy Einauge hatte ihm geraten: «Bei einem Mord hier in der Stadt rufst du ein Mal ‹Extra›. Moskau und Kiew vertreiben die Juden aus dem Stadtgebiet? Herrscht in Russland große Hungersnot und sterben die Juden daran? Zwei Mal ‹Extra›! An einem Tag, an dem nichts geschieht, fügst du drei ‹Extra› hinzu, denn du musst überhaupt was verkaufen.» Für Extras gab es immer eine gute Gelegenheit. Nur für die Toten des Ghettos wäre keinem eingefallen, «Extra» zu rufen.
Einauge war nur drei, vier Jahre älter, und doch war er ein großer Kenner der vielen Extras. Er hieß nicht etwa so, weil er ein Auge zu wenig hatte. Ihm fehlten drei Finger an einer Hand, aber kein Auge. «Ich will für dieses eine Mal ein Auge zudrücken», sagte er zu einem Jungen, der nicht genug Zeitungsexemplare abgesetzt hatte. «Das nächste Mal aber vergiss nicht, dass ich zwei habe. Also streng dich an.» So kriegte jeder bei ihm eine zweite Chance.
Die Jungen fürchteten nicht so sehr die harte Hand von Einauge, die er nur selten erhob. Es gab jede Menge harter Hände im Ghetto. Die des Polizisten, der älteren Jungs, der Händler, wenn sie von deren Schubkarren was klauten. Die des Vaters, wenn man so etwas wie einen eigenen Vater hatte. Wenn dieser nicht längst schon Richtung Westen verschwunden war, nachdem er die Plakate studiert hatte, auf denen Goldnuggets so groß wie ein Kopf versprochen wurden.
Mehr als alle Schläge fürchteten sie, nicht mehr in der Gunst von Einauge zu stehen und von ihm nicht mehr beschäftigt zu werden. Nicht mehr die besten Plätze zugewiesen zu bekommen, an belebten Straßenecken oder vor bekannten Restaurants wie Delmonico’s oder Lüchow’s. Dann würde man noch mehr hungern, als man es ohnehin schon tat. Was einen danach erwartete, sah man zweimal die Woche den Fluss hinauftuckern.
Wenn Großvater ein talentierter, aber dilettantischer Extra-Rufer war, so war Paddy Einauge der ungekrönte König von allem, was mit Geldmachen auf der Straße zu tun hatte: geschmuggelte Zigaretten, gepantschter Alkohol, Zeitungen verkaufen oder Pennys werfen. Wäre er nicht so jung gewesen, hätte man ihn einen «alten Fuchs» nennen können.
Noch höher im Ansehen als Paddy Einauge Fowley stand bei den Straßenjungen nur noch Houdini. Sie liebten den Magier, der sich im Nu aus den Handschellen befreien konnte. Nur für ihn nahmen sie Hunger in Kauf, um die zehn Cent für den Eintritt in die schäbigen Theater der Bowery oder in das Huber’s Museum an der Union Square zu sparen. Wer kein Geld hatte, starrte auf die Plakate, die einen kleingewachsenen, stämmigen Mann zeigten: «Houdini – der unbestrittene Handschellenkönig!» Als ob es irgendjemand bestreiten wollte. Man schaute und staunte.
Wenn Kinder mit Geld aus dem Theater kamen, belagerten sie die Kinder ohne Geld. Wenn sie nichts erzählten, wurden sie verprügelt. Wenn sie schlecht erzählten, wurden sie auch verprügelt. Also erfanden sie die wildesten Geschichten über Houdini. Einer behauptete, der Magier habe ihm Handschellen angelegt, ohne dass er es gemerkt hätte. Ein anderer ergänzte: «Nicht nur dir hat er welche angelegt, sondern dem ganzen Publikum.» Dann nickte er bedeutungsvoll und spuckte auf den Boden.
So einer wie Houdini würde sich von keinem Polizisten fangen lassen. Er würde sich aus jeder Lage befreien. Sie hatten dafür sogar einen Ausdruck: «Ein Houdini sein» oder «wie Houdini sein». Mit allen Wassern gewaschen. Einer, der nichts mit sich machen ließ. Ein Schlauer. Ein ganz Schlauer. Er würde niemals auf dem Schiff der Armenbehörde landen.
Auch Großvater hatte einen Spitznamen, man nannte ihn «Streichholz». Nicht, weil er so dünn war, das waren sie alle. Die meisten mussten Hosenträger kaufen, damit die Hosen nicht rutschten. Hosenträger waren ein ziemlich gutes Geschäft im Ghetto. Großvater war einfach schnell entflammbar.

Der Schneefall hatte am frühen Silvesterabend eingesetzt und das Ghetto verwandelt. Der Dreck, die Abfallmulden, die Sickergruben, der Müll, der Schlamm, die Reste der Straßenmärkte, das alles lag unter einer weißen Schicht, die immer höher wurde.
Es schneite auf die schwarzen Hüte der charedischen Juden und die Kopftücher der Italienerinnen, die noch ein wenig Mehl, Öl und alte Kartoffeln für die Sfingi suchten. Es schneite auf die Feuerleiter, die Markisen der Geschäfte und die Hausaufgänge, die im Sommer, wenn man aus den überhitzten Wohnungen flüchtete, voller Leben waren. Es schneite verbissen auf die Auslagen der Läden, die Körbe und Bottiche, die aufgehängten Anzüge und Kleider. Die unzähligen Sachen, die auch im Ghetto benötigt wurden.
Es schneite auf die Huren an der Allen Street, die sich trotz der Kälte hinauswagten, um Kunden anzulocken. Und egal, ob es sich um fromme Juden, betrunkene Iren oder bloß um neugierige Männer handelte, die jenseits der 14th Street lebten und hier nach Vergnügen suchten, sie verteilten ihren Segen gleichmäßig über alle. «Wollen wir nicht zusammen beten?», riefen sie unterschiedslos allen zu. Im Sommer, wenn sie im Schatten der Hochbahn spazierten, ließen sie ein Handtuch fallen, und wer es aufhob, durfte zur Betstunde mitgehen. Bei solchem Wetter aber gingen sie nur kurz vor die Tür und kehrten dann in den Hausflur zurück, um sich zu wärmen.
Es schneite auf die Bilder von San Rocco und der Madonna del Carmine, die Kruzifixe, Kerzen und Rosenkränze der Italiener, auf die Gebetbücher, die Tallit und Menoras der Juden, die überall auf Tischen zum Verkauf angeboten wurden. Es schneite unerbittlich und ganz demokratisch, der Schnee wurde auf alle verteilt, von der Battery bis nach Inwood. Der Wind zog ungehindert durch die eingemauerten Straßen wie ein Atemzug durch den Körper eines liegenden Riesen. Wie Gift.
Die Menschen und die Tiere hatten ihn zu ertragen. Während die Leute die warmen Stuben aufsuchten, blieben die Pferde duldsam am Straßenrand stehen. Ihre Rü- cken, Köpfe und Mäuler wurden allmählich vom Schnee bedeckt, ebenso die Karren, die sie zeitlebens hinter sich herzogen. Die Tiere waren still, sie hatten die Schikanen des Menschen überlebt, sie würden auch noch jene der Natur überleben. Sie lauschten in den Wind hinein. Selten schlugen sie mit ihren Schweifen, selten schlossen sie ihre gutmütigen Augen und zuckten mit den spitzen Ohren, als wollten sie noch besser lauschen.
Ihre Besitzer rückten zusammen in den Kellerkneipen der Mulberry Street und den versifften Saloons der Bowery. Der Silvesterabend bedeutete auch für die Armen etwas, für sie erst recht. Es war eine der wenigen Gelegenheiten, um für ein paar Stunden alles zu vergessen. Und für die Säufer, um aus noch besserem Grund zu trinken. Als die Sonne untergegangen war und die Stadt sich auf das große Fest vorbereitete, begannen sie, an der East Side zu vergessen und zu trinken. Oder zu trinken und zu vergessen, je nachdem, was schneller ging.
Zu dieser Zeit hatte Großvater längst die Bowery überquert und sich bis zum unteren Broadway durchgekämpft. Das tat er selten, denn nur im Ghetto fühlte er sich zu Hause. Das war sein Territorium, hier kannte er die Regeln, hier war er ein Houdini. Jenseits davon, am Broadway, an der Fifth Avenue und in den nördlichen Vierteln, kam er sich wie in einem fremden Land vor. Er war nie im Ausland gewesen, aber so musste man sich dort bestimmt fühlen. Man hatte zwei linke Hände und schaute dumm aus der Wäsche. Ein paar Hundert Meter entfernt, ein paar Schritte über die Bowery, und schon war man in einer anderen Welt.

 

© Verlag C.H.Beck oHG, München

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